Lea liegt neben mir auf dem Bett in der siebten Etage, die es eigentlich nicht gibt. Sie trägt ein weites, weißes Shirt und hat sich in meinen rechten Arm eingerollt, den sie zum Kissen nimmt, mir kehrt sie den Rücken zu. Die Klimaanlage fächelt kühl auf uns herab. Lea wird eingeschlafen sein, denke ich und lese. Da landet ein Tropfen auf meinem Arm.
„Was ist los?“ erkundige ich mich auf Englisch bei ihr, „What’s wrong?“ Keine Reaktion, Lea regt sich kein bisschen, bleibt ganz Rücken für mich. Meine Frage zerstäubt in der Luft. Es bleibt klimaanlagenstill, bis Arm und Bett von einem sanften Zittern erfasst werden: homöopathische Seismik. Da wird mir klar, warum sie so hartnäckig abgewandt bleibt, ich weiß genau, wie sich ihr Gesicht jetzt zusammenzieht im Versuch, die Tränen zurückzuhalten. Das Beben verrät sie. Tränenbeben. Lea weint lautlos und will nicht, dass ich es sehe. Ich lege das Buch hin.
Eigentlich weiß ich ja, was los ist. Sie hat es mir gleich gesagt, als sie vorhin zur Tür herein ist.
„You know what?“ hatte sie mich begrüßt. „Weißt du was?“
„What?“ Natürlich wusste ich nicht.
„50 days left.“
50 Tage noch.
Ich bin auf Zeit hier, für ein halbes Jahr. Aus einer Entfernung von 9.000 Kilometern und sechs (in der Winterzeit: sieben) Stunden bin ich hierher gereist, um Lea nah zu sein. Vor 729 Tagen sind wir uns in Deutschland über den Weg gelaufen. Vor 564 Tagen haben wir uns über Skype zum Paar erklärt. Die Tage zählt Lea mit einer Handy-App. Heute ist Tag 132 des halben Jahres, in dem wir probehalber dieselbe Stadt bewohnen, die Hauptstadt Taiwans, Leas Heimatstadt Taipeh. Vorläufige Nähe in Fernost.
Selbst als einfacher Aussagesatz klingt es verdächtig nach Kitsch und Klischee, wenn ich sage: Für die Liebe bin ich von Leipzig nach Taipeh gegangen. Aber so ist es.
Dass ich das mal sagen würde! Noch vor drei Jahren hätte ich darauf nicht viel gegeben. Nicht darauf, dass ich mal in Asien wohne, aber schon gar nicht darauf, dass ich ein Mädchen im Arm halte, egal wo. Viel weiter weg als die Ilha formosa, die schöne Insel, wie portugiesische Seefahrer Taiwan tauften, war vor drei Jahren noch die Liebe selbst, schier unerreichbar, da war ich ungeküsst, erwachsene Jungfrau, absoluter Beginner, oder was man zu so einem sagt. Was ich mir am dringendsten wünschte, was mir am meisten fehlte, wollte partout nicht gelingen. Nie. Was den anderen um mich herum einfach zuzustoßen schien, diese Sache mit dem Finden und Gefundenwerden, Verlieben und Zusammenkommen und Imnieselregenknutschen und, vielleicht irgendwann, Sichwiedertrennen und Weitersuchen: Dabei stolperte ich schon im ersten Schritt. Stand daneben und schaute zu. Fingen auf einer Party neben mir zwei zu knutschen an, kam ich mir nicht bloß wie ein Außenstehender vor, eher schon wie ein Außerirdischer. Love Alien.
Ich hab’s so versucht. Onlinedating natürlich, fast mein ganzes Onlineleben lang. Hab mich zu Blind-Dates verabredet und beim Speeddating mitgemacht, hab Ratgeber gewälzt: übers Flirten, fünf sichere Schritte zum Kuss, und wie Mann wirklich jede Frau erobert. War auf Partys, wo Singles per Aufkleber mit Nummern an der Brust markiert wurden. Habe mich therapieren und stylen lassen. Mit beiden Händen wühlte ich in der Grabbelkiste der Verpaarungsindustrie, was man so machen soll, hab ich alles gemacht: Irgendwas musste doch helfen!
Nichts half. Es wurde besser, aber erst jenseits der 30, mit etwas, das Überwindung kostet statt Geld.
Eigentlich redet man darüber nicht. Ich hab irgendwann aber aufgehört, mich zu verstecken. „Da wir gerade über Beziehungen sprechen, vielleicht überrascht dich das, aber: Ich hab noch nie …“ Auch wenn ich auf die Fragen der Anderen keine Antworten wusste, zum Beispiel auf das Warum, sollte ausgerechnet Reden helfen. Je weniger ich mein Lebensproblem für mich behielt, je mehr ich redete, mit Freunden, mit Fremden, mit der Familie, desto kleiner wurde das Problem, es hat sich — nicht gelöst, aber zerredet.
Mit 31 doch, woran ich längst nicht mehr hatte glauben wollen: erster Kuss! Erster Sex! Erste Beziehung! Eine Fernbeziehung Leipzig – Berlin, die immerhin einige Wochen hielt. In Abständen folgten zwei weitere kurze Beziehungen. Drei umwerfend tolle Frauen, mit denen es los-, aber allzu bald nicht weiterging. Aha, dachte ich. So ist das nun, als normaler Single?
Dann traf ich Lea. Sie war auf Auslandssemester in den Niederlanden, ihre Eltern glaubten die Tochter über Bücher gebeugt und ins Studium gekniet, sie aber reiste lieber kreuz und quer durch die Städte und Landschaften Europas. In München forderte sie mich im sehr kurzen blauen Kleid zum Swingtanzen auf. Als das Tanzwochenende um war, verbrachten wir einen ganzen letzten Abend mit Küssen, erst auf dem Bahnsteig der S-Bahn, schließlich auf einer Parkbank im Marienhof. Die Nacht verbrachten wir getrennt, anderntags reiste sie weiter. Ich wusste: Die musst du wiedersehen!
Dreimal reisten wir gemeinsam, nach Dresden, nach Berlin, nach Krakau. Vom Krakauer Busbahnhof aus ging es für Lea zurück nach Taiwan. „Und wenn wir uns nie wiedersehen?“ fragte sie unter Tränen, „What if we never see each other again?“ „Wir sehen uns wieder!“ sagte ich und meinte es. Warum denn nicht? dachte ich.
Halbe Tage verbrachten wir auf Skype miteinander, schickten uns Päckchen voller Schokolade hin und her. Der Zoll machte jedes einzelne Päckchen auf, zerbrach noch so sorgsam verpackte Schokofiguren. Auf Drogensuche? Da suchten sie bei uns vergeblich, die hatten wir nicht nötig, wir hatten uns. Manchmal schliefen wir gemeinsam über Skype ein. Nur einmal schickte ich ihr doch ein Fläschchen Rotwein. Mit den Weingläsern stießen wir unsere Webcams an und prosteten uns auf dem Display zu, auf die soeben geschlossene Beziehung. Dafür, dass ich keine Fernbeziehung gewollt hatte, hatte ich nun eine Fernstbeziehung.
Vom Abschied in Krakau an dauerte es etwas länger als ein halbes Jahr, bis ich Geld für eine Reise zusammen hatte.
Sehr früh morgens landete ich zum ersten Mal in Taipeh, fischte meinen Wanderrucksack vom Gepäckband und wollte gerade am Zoll vorbei durch die große Schleuse der Ankunft entgegen, wo Lea auf mich wartete, als mich Zweifel überfiel. Was machst du hier? Ich stockte, blieb stehen und sah mich um, als wachte ich aus einem Traum auf. Du scheiterst an einer Beziehung zwischen Leipzig und Berlin, fliegst aber einmal quer über Russland und China zu einer Frau, die du gar nicht richtig kennst. Wie soll das gehen? Ist das nicht Blödsinn? So gesehen war es vielleicht welcher. Aber ich war nun hier. Ich gab mir einen Ruck, ging weiter und schloss Lea in die Arme. Der Zweifel muss beim Zoll hängengeblieben sein, jedenfalls hat er sich seitdem nicht wieder gemeldet.
Drei Wochen lang bereisten wir Taiwan, die Berge, die Ostküste, die winzige Orchideeninsel mit ihren Ureinwohnern. Nächtelang saßen wir dort aneinandergelehnt auf einem Flachdach in der sommerwarmen Brise, ließen uns von der Brandung anbrüllen und schwiegen. Da dachte ich zum ersten Mal: Das ist ein Gesicht, in das du lange schauen kannst, ohne dass du dich je daran satt siehst!
Bei dem Abschied weinte ich auch.
Ich komme wieder, versprach ich. Gerade steckte ich mitten im Diplom an der Filmhochschule, das ich erst ablegen musste. Das dauerte wieder ein gutes halbes Jahr. Im Frühjahr war der Diplomfilm abgedreht und abgesegnet. Ich kündigte die Altbauwohnung in Leipzig, verscherbelte übers Internet alle Möbel (auch meine geliebte Värde-Küche, die es bei Ikea gar nicht mehr gibt) und flog mit 20 Kilo plus Handgepäck los.
Seitdem bewohne ich ein WG-Zimmer im siebten Stock eines sechsgeschössigen Hauses am Daan-Park, für Taipeh so etwas wie der Central Park in New York. Wie auf fast alle Häuser hat man auf unseres ein Stockwerk aufgesetzt, illegal und in Leichtbauweise. Bei Taifun wackeln die Wände, dafür sind diese Wohnungen am billigsten.
Die meisten Tage verbringen wir im Café, von mittags bis nachts sitzen wir über die Laptops gebeugt beieinander, die Hände nicht bloß auf den Tasten. Nähe: für sie bin ich hergekommen. Wie alle Laptop-Arbeiter hier brauchen wir nur ein Getränk bestellen und dürfen sitzenbleiben, so lange wir wollen, Strom und Internet inklusive. Lea hat bis vor kurzem an ihrer Masterarbeit geschrieben. Jetzt sucht sie im Internet nach Stellen als Projekt- oder Social-Media-Managerin und verschickt Bewerbungen. Ich brüte an neuen Filmideen, recherchiere, führe Skype-Interviews und habe schon sechs Entwürfe zu PDF gebracht. Als freischaffender Filmemacher muss ich mir meine Arbeit selber beschaffen.
Nur übernachtet hat Lea bei mir noch nie. Es geht nicht. Selbst mit 27 muss sie, solange unverheiratet, bei den Eltern wohnen, eine gute Stunde vom Daan-Park weg in Neu Taipeh. Die wissen nichts von uns. Was für jemanden aus Deutschland nach dem Normalsten klingen mag: ein Paar sein, beim Freund oder der Freundin übernachten, irgendwann zusammenziehen — das finden viele Taiwaner, vor der Hochzeit jedenfalls, unakzeptabel. Vor allem die Generation der Eltern und Großeltern. Natürlich haben junge Taiwaner Beziehungen, aber der Familie gegenüber halten sie die nicht selten geheim, und nicht nur bei ausländischen Partnern. Konfuzianische Werte vertragen sich schlecht mit westlicher Lebensweise.
Einer der Gründe, weshalb Lea weg will aus Taipeh.
Ich glaube, mit unserer Beziehung hat Lea mehr auf sich zu nehmen als ich. Sie wagt den größeren kulturellen Spagat, hat wahrscheinlich auch mehr zu verlieren. Von den Eltern und der Familie mal abgesehen: Schon auf der Straße zieht ein taiwanisches Mädchen, Hand in Hand mit einem blonden Westler, Blicke auf sich. Nicht alle wohlwollend. Ein deutscher Bekannter, der seit acht Jahren hier wohnt und mit einer Taiwanerin verheiratet ist, meint: Da schießen den Leuten dieselben Klischees durch den Kopf, dieselben Vorurteile, wie wenn beispielsweise in Deutschland ein Mädchen mit einem Schwarzen herumläuft. Die meisten mögen sich nicht daran stören, aber manche eben doch. Zweimal erlebte ich mit, wie Lea mitten auf der Straße beschimpft wurde. Eine alte Frau schrie uns inbrünstig Flüche hinterher, von denen Schlampe einer der harmloseren war, bis wir uns um eine Straßenecke gerettet hatten. Aber das sind Ausnahmen, die von überaus herzlichen Begegnungen mehr als wettgemacht werden.
(Ein taiwanischer Mann übrigens, Hand in Hand mit einer westlichen Frau, würde Beifall und Bewunderung ernten, aber das nur am Rande.)
Als wir wandern gehen, stellt sich heraus: Lea hasst Wandern. Jedenfalls, wenn ich sie an einer Abzweigung spontan zur längeren und weit anstrengenderen Tour überrede. Auf dem Gipfel des Tigerbergs, mit bestem Panoramablick auf den berühmten Wolkenkratzer Taipei 101, haben wir unseren ersten Streit, wir giften uns an und werfen uns vor, den schönen Tag auf dem Gewissen zu haben. Ein einziges Mal begleitet sie mich zum Sport, aber sie hasst auch den, jedenfalls meine Sportart. Nicht einmal dieselbe Musik hören wir. In vielen Dingen, auf die man beim Tindern und Okcupidden viel Wert legen würde, sind wir ausgesprochen verschieden. Dennoch läuft es, davon abgesehen, fast gespenstisch gut mit uns, gerade aus der Nähe.
Sind wir wirklich so eine „Generation beziehungsunfähig“, wie die steile Karriere dieser Selbstbezeichnung vermuten ließe? Mir kommt das vor wie eine kleine Ausrede, die es uns leicht macht, uns aus der Verantwortung zu stehlen. Bitteschön: Es liegt gar nicht an mir, sondern an der Generation! Aber, Entschuldigung: Jeder und jede tut sich schwer mit der Liebe, jeder hat seine Baustellen, die meisten eine ganze Horde Wanderbaustellen mit Schleichverkehr und Stau. Bei mir hatte es die längste Zeit nicht losgehen wollen, andere Leute haben andere Sorgen. Nun bin ich endlich unterwegs (welch Glück!), aber da wird noch mehr auf mich zukommen. Wenn etwas normal ist, dann doch das — und nicht timelinetaugliches Dauerglück! Zugegeben, ich kenne das Verführerische am Gedanken, Ursache und Schuld woanders und bei anderen zu suchen. Aber wenn ich eins gelernt hab, dann: Die sind es nicht, fast nie. Nicht die Generation und nicht die Gesellschaft, nicht „die Frauen“, nicht „die Männer“, nicht die Zeit und nicht die Umstände. Was Liebe angeht, bleiben wir zuständig für uns. Du und ich.
Mein bisschen Erspartes vom Verkauf der Ikeaküche ist bald verlebt, auch mein kleines Zimmer mit den wackligen Wänden ist schon weitervermietet. Die Nähe auf Probe läuft ab. Wir wollen uns durchaus in festere Verhältnisse übernehmen, aber verlängern und bleiben, das kann ich nicht einfach so. Arbeiten darf ich hier nicht, und was sollte ich auch arbeiten? In meinem Beruf schwierig, allein wegen der Sprache. Also rückt die Ferne wieder näher: erstmal zurück nach Deutschland, Geld verdienen. Und hoffen, dass auch Lea dort eine Stelle finden und nachkommen kann.
Und weil eben die Tage unserer Nähe mit jedem Tag einer weniger werden, kann schon eine Umarmung, ein bisschen Hautkontakt Tränen auslösen.
Vielleicht sind wir wahnsinnig naiv. Ehrlich gesagt, habe ich noch keinen Schimmer, was das für eine Taiwanerin heißen mag, nach Deutschland zu kommen, dort wohnen und arbeiten zu wollen. Oder, umgekehrt, für mich nach Taiwan. Oder für uns beide woandershin. Die drei Möglichkeiten haben wir
„Was, wenn das alles nicht klappt?“ fragt Lea manchmal, „was machen wir dann?“
Von uns beiden ist Lea die Pessimistischere, auch wenn sie darauf besteht, es realistisch zu nennen. Ich kann, seit ich sie kenne, irgendwie nicht mehr pessimistisch sein, vielleicht habe ich meinen Pessimismus in den langen Jahren vor ihr aufgebraucht. Ich kann immer nur denken: Warum denn eigentlich nicht? So weit sind wir doch gekommen.
Und 50 Tage haben wir erstmal noch.